Wolfgang Gründinger fragt, LiquidFeedback antwortet 

news :: 2017
von Jan Behrens am 21. September 2017

In einem Beitrag auf der Online-Präsenz der sozialdemokratischen Zeitung „vorwärts“ beschäftigt sich der Sozialwissenschaftler Wolfgang Gründinger mit der Online-Abstimmungsplattform einer neuen Partei („Demokratie in Bewegung“, DiB). [1] Hierbei nimmt er auch auf LiquidFeedback Bezug, um aufzuzeigen, dass beim Einsatz von Online-Abstimmungsplattformen gewisse Fragen in der Vergangenheit angeblich nie hätten geklärt werden können. Herr Gründinger fragt,

  1. wie sichergestellt sei, dass die Ergebnisse nicht manipuliert werden, „ohne eine Vorratsdatenspeicherung aller Abstimmungen mit dem Abstimmungsverhalten aller Beteiligten anzulegen“,
  2. wie man damit umgehe, dass „gerade auch bei Online-Plattformen nur die Zeitreichen das Sagen haben“,
  3. wie man online eine gute Diskussion sicher stelle, z. B. wenn man nicht mehr 200, sondern 200.000 Mitglieder habe,
  4. was passiere, wenn der Parteitag anders entscheide als die Online-Community?

Wir helfen Herrn Gründinger bei seiner Recherche gern weiter und beantworten seine Fragen unter Verweis auf seit langem veröffentlichte Quellen:

Zu 1.: Online-Abstimmungen können (genau wie Urnenwahlen) immer manipuliert werden; entscheidend ist die Frage, ob Manipulationen aufgedeckt werden können. [2] Im Falle von Online-Abstimmungen kann mittels namentlicher Abstimmungen (Veröffentlichung aller Stimmen mit Namen der Abstimmenden) sichergestellt werden, dass alle Teilnehmer die Ergebnisse überprüfen und somit Manipulationen seitens des Betreibers oder seitens Dritter aufdecken können. Namentliche Abstimmungen, die für alle einsehbar sind, sind ein bewährtes Instrument. Entscheidungen zu Sachfragen müssen nicht geheim erfolgen. [3] Namentliche Abstimmungen als „Vorratsdatenspeicherung“ zu bezeichnen, mag polarisieren und Aufmerksamkeit generieren; die Wortwahl wäre im Falle von öffentlichen Daten jedoch unangemessen und unsachlich, da es sich bei der Vorratsdatenspeicherung um Speicherung persönlicher, nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Daten handelt, die ohne konkreten Verwendungszweck auf Vorrat gespeichert werden. Namentliche Abstimmungen sind per se öffentlich, also etwas ganz anderes. Eine Übernahme von Verantwortung ist bei politischen Sachentscheidungen durchaus wünschenswert.

Zu 2.: Das Problem der Benachteiligung von Personengruppen mit einem geringeren Wissensstand oder weniger Zeit wird durch das Konzept der transitiven Stimmendelegation (Liquid Democracy) gelöst. Die transitive Stimmendelegation ermöglicht eine dynamische Arbeitsteilung aufgrund individueller Entscheidungen der Stimmberechtigten. [4][5][6] Die bloße Behauptung, dass Personengruppen mit einem geringeren Wissensstand oder weniger Zeit „gerade auch bei Online-Plattformen“ benachteiligt sein sollen, ohne sich hierbei mit neuen Konzepten (z. B. der transitiven Stimmenübertragung) im Detail auseinanderzusetzen, ist unzureichend.

Zu 3.: LiquidFeedback zeigt auf, wie ein demokratischer Prozess gestaltet sein kann, damit auch eine große Anzahl Mitglieder in einem strukturieren Prozess miteinander diskutieren können. [5] In zwei Artikeln vom 28. Juli 2015 und 11. Mai 2017 wird zudem aufgezeigt, wie sich der Prozess noch verbessern lässt, so dass eine theoretisch unbegrenzte Anzahl Teilnehmer in die Lage versetzt wird, gleichberechtigt (also fair und demokratisch) zu diskutieren, ohne dass dieser Prozess von kleineren Minderheiten oder Einzelpersonen gestört werden kann und ohne dass ein „Moderatorenteam“ mit speziellen Befugnissen benötigt wird. [7][8] Die Konzepte von LiquidFeedback zur fairen Repräsentation in einem Online-Diskurs sind inzwischen Teil der internationalen wissenschaftlichen Debatte. So wird der Einsatz proportionaler Repräsentationsverfahren durch LiquidFeedback z. B. von Piotr Skowron, Martin Lackner, Markus Brill, Dominik Peters und Edith Elkind (University of Oxford) in einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung aufgegriffen. [9]

Zu 4.: Ein Online-Beschluss ohne Bindungskraft ist in der Tat als problematisch anzusehen. Sobald die Teilnehmenden merken, dass ihre Stimme kein verbindliches Gewicht hat, droht der Beteiligungsprozess einzuschlafen bzw. eine Freizeitbeschäftigung einiger weniger Personen zu werden. Hier ist es wichtig, Verbindlichkeit der durch die Mitglieder gefassten Beschlüsse herzustellen. Selbstverständlich sollten online (per namentlicher Abstimmung) gefasste Beschlüsse hierbei offline gefassten Beschlüssen gleichgestellt sein. Dass dies machbar ist, zeigt z. B. die Partei „Glitzerkollektiv“. [10] Inwieweit sich eine verbindliche Entscheidung einer Partei formal oder de-facto auf die von ihr aufgestellten Abgeordneten auswirkt, ist hiervon gesondert zu betrachten. Gerne wird Artikel 38 des Grundgesetzes herangeführt, um zu argumentieren, dass Abgeordnete grundsätzlich unabhängig von Parteientscheidungen bei der Ausübung ihres Mandats handeln sollten. So argumentiert auch Gründinger mit Verweis auf das Grundgesetz:

„Abgeordnete heißen bei der DiB nicht mehr Abgeordnete, sondern ‚Fürsprecher/innen‘. Und die müssen unterschreiben, dass sie sich bei ihrem Abstimmungsverhalten immer ans Wahlprogramm halten. Bei Zuwiderhandlung erfolgt Parteiausschluss. Das ist nicht mehr nur die bekannte Fraktionsdisziplin; das ist Fraktionszwang hoch zehn. Das ist schon hart an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit, denn es gilt laut Grundgesetz das freie Mandat.“ [1]

Von der Frage abgesehen, ob die DiB tatsächlich Parteimitglieder ausschließt, die sich nicht „immer“ an die Vorgaben ihrer Partei halten (vergleiche Satzung der Partei, [11] die den Abgeordneten ausdrücklich abweichende Gewissensentscheidungen ermöglicht), ist folgendes festzustellen: Dass sich Mitglieder eines Parlaments gemeinsam zu Fraktionen zusammenschließen und hierbei Absichtserklärungen unterzeichnen, die auch ihr Abstimmungsverhalten betreffen, ist gängige demokratische Praxis. Ebenso ist allgemein anerkannt, dass politische Parteien Einfluss auf die von ihnen aufgestellten und vom Volk gewählten Vertreter ausüben. Nicht ohne Grund wird dem Wähler selbst bei Direktkandidaten im Falle von Kreiswahlvorschlägen durch Parteien die Parteizugehörigkeit auf dem Stimmzettel angezeigt und es obligt Parteien auf demokratischem Wege ein Parteiprogramm zu beschließen und dieses dem Wahlleiter mitzuteilen, bevor diese erstmalig zur Wahl zugelassen werden. [12] Inwieweit ein Partei- oder Fraktionsauschluss von Mandatsträgern bei Verstoß gegen die Parteisatzung einer Partei, in der diese (freiwillig) Mitglied sind, im Einzelfalle zulässig ist (und welche Satzungsregelungen zulässig oder unzulässig sind) muss von Gerichten geklärt werden. Ebenso wie Abgeordnete bei der Ausübung ihres Mandats nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, sind Parteien in der Gestaltung ihrer Organisation und Satzung zunächst einmal frei. [3] Zu fordern, dass Abgeordnete keine Wahlversprechen abgeben dürften oder grundsätzlich von ihrer Partei, Fraktion oder Koalition entkoppelt handeln sollten, entspricht darüber hinaus nicht dem Geiste des freien Mandats, sondern wäre eine unangemessene Einschränkung eben dessen. Halina Wawzyniak (Die Linke) argumentiert beispielsweise, dass „entsprechend der herrschenden Meinung“ Wortlaut und Realität von einander abwichen, und dies auch noch durch die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gerechtfertigt werde:

„Zwar steht in Artikel 38 Abs. 1 S. 2 GG, dass Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind und sie seien auch nur ihrem Gewissen unterworfen. Doch die Realität ist eine andere und sie wird –entsprechend der herrschenden Meinung in dieser Frage– auch noch durch die Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) gerechtfertigt. Nur wenn es um eine sog. Gewissensentscheidung geht wird der sog. Fraktionszwang aufgehoben.“ [13]

Wawzyniak zitiert im Folgenden die Rechtsdatenbank „beck-online“. Dort heißt es, dass die „politische Einbindung der Abgeordneten in ihre Parteien und Fraktionen verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt“ ist, da ansonsten Artikel 21, Absatz 1 GG („Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“) „vollständig überspielt“ würde:

„ ‚Vielmehr ist die politische Einbindung der Abgeordneten in ihre Parteien und Fraktionen verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt (…). Hinsichtlich der parteilichen Einbindung würde ansonsten Art 21 Abs. 1 GG, der den Parteien eine besondere Funktion bei der politischen Willensbildung und bei der Kanalisierung und Organisation politischer Prozesse zuweist, vollständig überspielt, und hinsichtlich der Fraktionsbildung würde missachtet, dass die von Abgeordneten in Ausübung ihres freien Mandats gebildeten Fraktionen (…) für die parlamentarische Arbeit unverzichtbar sind.‘ (BeckOK, Art. 93, Rdn. 100).“ [13]

Konkrete Kritik an „Demokratie in Bewegung“ gerechtfertigt

Trotz mangelnder Recherche zum Thema LiquidFeedback enthält Gründingers Artikel berechtigte Kritik an der jungen Partei. So stellt Gründinger das Demokratieverständnis der jungen Partei in Frage und kommentiert zur Online-Abstimmungsplattform der Partei, dass man dort auch als Nicht-Mitglied seine Ideen einbringen könne, jedoch nicht alle Anträge diskutiert würden, sondern es ein unabhängiges Gremium gäbe, welches sicherstelle, dass keine Initiative gegen die Werte der Partei verstoße.

In der „Abstimmungsordnung für Initiativen“ der Partei, beschlossen am 29. April 2017, heißt es unter §7 Abs. 1 tatsächlich:

„Der Inhalt der Initiative muss den Werten von ‚Demokratie in Bewegung‘ entsprechen. Die Moderation der Abstimmungsplattform prüft, ob der Inhalt der Initiative den Werten entspricht.“ [14]

Obwohl es Parteien selbstverständlich frei steht (und auch frei stehen muss), gegen Mitglieder, die gegen den Wertekonsens der Organisation verstoßen, ein Parteiausschlussverfahren einzuleiten, ist es aus demokratischen Gesichtspunkten in der Tat fragwürdig, wenn ein solches „Moderationsteam, das vom Bundesvorstand bestimmt wird“ (§ 8, Abs. 1) auch Anträge von Mitgliedern prüft, bevor diese diskutiert werden können. Zumindest hier müsste eine Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern vorgenommen werden, da ansonsten ein solches System nicht die von Parteien geforderte innerparteilich-demokratische Organisation abbilden kann. Insbesondere wenn das System zentrales Element der Willensbildung sein soll, dann sollte ein solches System auch demokratischen Prinzipien unterliegen. Diese sind verletzt, wenn ein vom Bundesvorstand bestimmtes „Team“ vorab über die inhaltlichen Werte von Anträgen entscheidet, bevor diese überhaupt zur Debatte gestellt werden können.

Doch auch das Online-Abstimmungssystem selbst betreffend gibt es Kritik zu üben. So werden konkurrierende Anträge ebenso vom vorgenannten „Moderationsteam“ gruppiert und über diese Gruppen in einem Wahlmodus ähnlich dem sogenannten „Approval-Voting“ abgestimmt (Antrag mit den meisten „Ja“-Stimmen gewinnt). [14] Ein Präferenzwahlverfahren, wie bei LiquidFeedback, kommt nicht zum Einsatz. Dieses könnte vermeiden, dass konkurrierende Anträge sich prinzipbedingt schaden, da Abstimmende sonst verleitet werden könnten, bei mehreren Alternativen nur für ihren Erstwunsch zu stimmen. [5] Auch werden bei der Online-Abstimmungsplattform von „Demokratie in Bewegung“ gar keine offenen namentlichen Abstimmungen durchgeführt, sondern es dürfen Pseudonyme verwendet werden (vergleiche Frage „Muss ich meinen echten Namen angeben?“ unter „Häufige Fragen“ zur Abstimmungsplattform [15]). Somit ist nicht ersichtlich, wie die Teilnehmer Manipulationen durch den Plattformbetreiber abwehren können und sich von der Korrektheit der Ergebnisse selbst überzeugen können:

„Muss ich meinen echten Namen angeben? – Bei der Registrierung ja. Wir müssen überprüfen, ob Du wirklich existierst, um Mehrfachanmeldungen zu verhindern. Öffentlich wird Dein Name nur angezeigt, wenn Du selber eine Initiative startest. Diskutieren und abstimmen kannst Du auch unter einem Synonym.“ [15]

Als Entwickler von LiquidFeedback haben wir schon mehrfach auf dieses Problem hingewiesen und auch erläutert, wie es zu lösen ist. [16][17][18]

Fazit

Die Kritik von Wolfgang Gründinger an der neuen Partei „Demokratie in Bewegung“ (DiB) ist in vielerlei Hinsicht berechtigt. Viele theoretische Fragen zum Thema, die Gründinger als ungeklärt darstellt, wurden jedoch bereits beantwortet. Es sollte nicht der Eindruck verbleiben, die Politik sei, wie sie derzeit praktiziert wird, alternativlos. Parteien wirken (gemäß Grundgesetz) bei der politischen Willensbildung des Volkes mit und sind dabei in der Gestaltung ihrer Organisation und Satzung (sofern diese demokratischen Grundsätzen genügen) zunächst einmal frei. [3] Mit LiquidFeedback haben wir aufgezeigt, dass es sehr wohl möglich ist, Politik durchlässiger zu gestalten und eine große Anzahl Menschen direkt an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Hierzu ist es aber erforderlich, sich zunächst mit neuen Erkenntnissen auseinanderzusetzen, um dann mit Mut und einem schlüssigen Konzept voranzuschreiten. [2][3][5][6][7][9][16][19]


Referenzen:

[1] Wolfgang Gründinger: „Demokratie in Bewegung (DiB): Warum wir keine neue Partei brauchen“ auf der Online-Präsenz von „vorwärts : die Zeitung der deutschen Sozialdemokratie“, 12. September 2017

[2] Björn Swierczek: „Überprüfbarkeit demokratischer Prozesse“ Teil 1 und Teil 2, 15. September 2011

[3] A. Kistner, B. Swierczek: „Über die Zulässigkeit offener Abstimmungen in politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland“, 26. November 2014

[4] Andreas Nitsche: „Warum Liquid Democracy keine Alternative zur parlamentarischen Republik ist“ auf der Online-Präsenz von „vorwärts : die Zeitung der deutschen Sozialdemokratie“, 21. März 2017

[5] J. Behrens, A. Kistner, A. Nitsche, B. Swierczek: „The Principles of LiquidFeedback“, Januar 2014, ISBN 978-3-00-044795-2. Verfügbar unter: http://principles.liquidfeedback.org/

[6] C. C. Kling, J. Kunegis, H. Hartmann, M. Strohmaier, S. Staab: „Voting Behaviour and Power in Online Democracy: A Study of LiquidFeedback in Germany's Pirate Party“, 26. März 2015

[7] J. Behrens, A. Nitsche, B. Swierczek: „A Finite Discourse Space for an Infinite Number Of Participants“, 28. Juli 2015

[8] Jan Behrens: „LiquidFeedback's Issue Limiter", 11. Mai 2017, im „The Liquid Democracy Journal“, Ausgabe 5, ISSN 2198-9532.

[9] P. Skowron, M. Lackner, M. Brill, D. Peters, E. Elkind: „Proportional Rankings“, 5. Dezember 2016

[10] „Organisationsstatut, Erstes Buch: Grundsätze“ der Partei „Glitzerkollektiv“, Stand 1. Juli 2017

[11] Satzung von „Demokratie in Bewegung“, beschlossen am 29. 2017

[12] Bundeswahlgesetz (BWG), zuletzt geändert am 8. Juni 2017

[13] Halina Wawzyniak: „Was draus machen“, 10. August 2015

[14] Demokratie in Bewegung: Abstimmungsordnung für Initiativen, beschlossen am 29. April 2017

[15] „Häufige Fragen“ zur Abstimmungsplattform „abstimmen.bewegung.jetzt“ der Partei „Demokratie in Bewegung“, abgerufen am 19. September 2017

[16] Björn Swierczek: „5 Jahre Liquid Democracy in Deutschland“, 17. August 2011

[17] J. Behrens, A. Kistner, A. Nitsche, B. Swierczek: „LiquidFeedback-Entwickler distanzieren sich vom Einsatz ihrer Software in der Piratenpartei“, 17. September 2012

[18] J. Behrens, A. Kistner, A. Nitsche, B. Swierczek: „Auch für Konrad-Adenauer-Stiftung gilt: Internet darf kein ‚rechtsfreier Raum‘ sein“, 19. September 2017

[19] Jan Behrens: „Game of Democracy“, 7. Oktober 2014