Mission 

von Andreas Nitsche

Interaktive Demokratie durch „Liquid Democracy”

Liquid Democracy

Fast alle demokratischen Organisationen und Gebietskörperschaften bedienen sich ab einer bestimmten Größe gewählter Repräsentanten. Dadurch wird zwar einerseits eine Überforderung der Menschen durch eine unüberschaubare Flut zu treffender Entscheidungen, wie sie in einer direkten Demokratie zu erwarten wäre, vermieden. Andererseits ist das Modell der repräsentativen Demokratie aber in der Kritik, weil aufgrund von Absichtserklärungen eine Entscheidung für ein ganzes Bündel politischer Ziele getroffen werden muss und den Repräsentanten für einen längeren Zeitraum die Entscheidungsgewalt übertragen wird. Auch Repräsentanten klagen gelegentlich darüber, dass sie nicht wissen, wie die Mehrheit der von ihnen Vertretenen zu einer bestimmten Frage steht. Die Informationstechnologie hat neue Möglichkeiten für die Gestaltung der Wechselbeziehung zwischen Wählern und Repräsentanten hervorgebracht. Der Begriff der interaktiven Demokratie hebt auf die Nutzung dieser (in der Regel in repräsentative demokratische Strukturen eingebetteten) Möglichkeiten ab. Die Grundidee ist die Herausbildung eines politischen Systems, in dem die meisten Sachfragen durch ein Referendum entschieden werden oder die Ergebnisse eines Referendums die Entscheidungsgrundlage für Repräsentanten bilden.

Einen Erfolg versprechenden Ansatz zur Schaffung einer interaktiven Demokratie stellt Liquid Democracy dar. Da niemand über hinreichend Zeit und Wissen verfügen wird, um alle Fragen selbst zu entscheiden, sieht Liquid Democracy eine übertragbare, themenspezifische Delegation des Stimmrechts an beliebige andere Personen vor, die jederzeit widerrufen werden kann. Die Möglichkeit der Stimmendelegation ist seit langem als „delegated” oder „proxy voting” bekannt. Wurde die Delegation des Stimmrechts ursprünglich genutzt, um bei Abwesenheit einen Vertreter zu beauftragen, so erhebt Liquid Democracy die Delegation zum Prinzip. Es geht letztlich um die Suche nach Experten ungeachtet der formalen Qualifikation: man delegiert seine Stimme an eine Person, der man in einer bestimmten Sachfrage entweder die Vertretung seiner Interessen oder die Entscheidung darüber, wer dies kann, zutraut. Da Liquid Democracy auf die für repräsentative Demokratien typische Bündelwahl und auf feste Wahlperioden verzichtet sowie jederzeit die aktive Einmischung ermöglicht, kann sie Nachteile der repräsentativen Demokratie abmildern oder beseitigen, insbesondere korruptionshemmend wirken, Lobbyarbeit nur noch auf der Basis von Argumenten aussichtsreich erscheinen lassen, ohne dabei die Menschen zu überfordern. Jeder Einzelne kann entscheiden, ob er sich so verhält wie in einer repräsentativen Demokratie oder in einer direkten Demokratie. Diese Entscheidung kann er außerdem für jedes einzelne Thema treffen. Es ergibt sich ein fließender Übergang zwischen repräsentativer und direkter Demokratie.

LiquidFeedback

LiquidFeedback ist eine Liquid Democracy Software, die wir ab Oktober 2009 im Rahmen des Public Software Group e. V. entwickelt haben. Von Anfang an stand für uns fest, dass wir uns nicht auf Abstimmungen beschränken wollen, weil der Diskurs eine wesentliche Voraussetzung für fundierte Entscheidungen darstellt. Konzeptionelle Arbeit wird heute in der Regel von kleinen Gruppen, Gremien, Expertenkreisen oder gar visionären Einzelpersonen geleistet. Wir haben dies zunächst als gegebene Realität akzeptiert. Die Herausforderung bestand darin, die konzeptionelle Arbeit der demokratischen Mitwirkung zu erschließen ohne sie gleichzeitig zu verhindern. Erreichen wollten wir dies über ein strukturiertes Feedback, einen formalisierten gesellschaftlichen Diskurs, der viel feingliedriger und unmittelbarer wirkt als der bekannte Prozess aus Verlautbarung, Medienecho, Stammtischdiskussion, Meinungsumfrage und Wahlergebnis. Wir gehen also davon aus, dass viele konkrete Vorschläge auch in Zukunft durch vergleichsweise kleine Teams erarbeitet und weiterentwickelt werden und halten dies nicht für kritikwürdig, solange sichergestellt ist, dass alle

  • Kenntnis erlangen,
  • durch Anregungen Einfluss auf die Weiterentwicklung eines Vorschlags nehmen,
  • bei Bedarf einen Alternativvorschlag einbringen und
  • an der abschließenden Abstimmung teilnehmen können.

Zunächst sei gesagt, dass jeder das gleiche Recht hat, als Initiator einen Vorschlag in das System einzustellen. Dies vorausgeschickt haben wir uns entschieden, die Bearbeitungshoheit für einen Vorschlag beim Initiator, also dem Autor, zu belassen. Der Autor erhält während der Diskussionsphase quantifizierte Rückmeldungen über den Zustimmungsgrad und das Potential für zusätzliche Zustimmung bei Umsetzung verschiedener Anregungen. Er selbst kann entscheiden, was in seinen Entwurf passt und was er einarbeitet. Dabei unterstellen wir das Bestreben des Autors, dass sein Vorschlag sinnvoll und konsistent bleibt und zugleich mehrheitsfähig wird.

Teilnehmer, die einem Entwurf zustimmen könnten, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden, können diese notwendigen Bedingungen formulieren und die Anforderung mit dem eigenen Stimmgewicht versehen. Sofern eine Anforderung bereits existiert, kann das eigene Stimmgewicht hinzugefügt werden. Bereits gestellte Anforderungen sind nach dem Stimmgewicht beginnend mit dem höchsten Gewicht sortiert. Um die Chance der Realisierung der eigenen Anforderung zu erhöhen, ist es sinnvoll, sich (wann immer möglich) einer bereits bestehenden Anforderung anzuschließen. Alle vorhandenen Anregungen können wie folgt bewertet werden:

  • notwendigen Bedingungen für eine Zustimmung („bei Realisierung dieser Bedingungen würde ich zustimmen“)
  • Indikation der Präferenzsteigerung („dies macht den Vorschlag noch unterstützenswerter“)
  • Indikation der Präferenzsenkung („ich würde zwar weiterhin zustimmen, dies aber als Verschlechterung ansehen“)
  • hinreichende Bedingung für das Entziehen der Zustimmung („bei Realisierung dieser Änderung ziehe ich meine Unterstützung zurück“).
Alle Initiativen arbeiten nun auf eine Verbesserung des eigenen Vorschlags in Bezug auf seine Mehrheitsfähigkeit hin. Wenn eine Initiative einen neuen Entwurf (neue Version des Antrags) veröffentlicht, werden die Unterstützer über die Änderungen informiert (Versionsvergleich) und können die Bewertung ändern und angeben, ob sie eine Anregung als umgesetzt betrachten. Das Feedback umfasst die folgenden Informationen:
  • Zahl derzeit vorbehaltlosen Unterstützer
  • Zahl der derzeit vorbehaltlosen Unterstützer, die den letzten Entwurf schon gesichtet haben
  • Gesamtzahl der potentiellen Unterstützer
  • Angaben über die Anzahl von Anhängern und Gegnern einzelner Anregungen entsprechend der oben genannten Feedback-Klassifizierung sowie über Korrelationen zwischen Anregungen.

Wer mit seinen Anregungen nicht durchdringt, kann bei Bedarf selbst als Initiator auftreten. Bewusst haben wir während der Diskussionsphase auf die Möglichkeit der Eingabe fundamentaler Ablehnung verzichtet. Die Diskursphase soll den grundsätzlich an einem Vorhaben Interessierten Gelegenheit zur Verbesserung des Vorschlags in konstruktiver Atmosphäre geben. Wer einen Vorschlag grundsätzlich ablehnt, sollte Gegenvorschläge unterstützen oder selbst als Initiator auftreten. Stimmen können global, auf Themenbereichs- oder Themenebene transitiv delegiert werden. Durch Beteiligung oder Ausübung des eigenen Stimmrechts wird die Delegation für die jeweilige Diskussion oder Abstimmung automatisch hinfällig. Eine Moderation findet zu keinem Zeitpunkt statt, da die Einflussmöglichkeiten eines Moderators aus unserer Sicht dem demokratischen Anspruch des Systems widersprechen würden.

Im Anschluss an die Diskussionsphase erfolgt eine Abstimmung aller Anträge zum gleichen Thema. Als Wahlverfahren haben wir die Schulze-Methode gewählt. Eine Eigenschaft dieser Methode, die uns besonders wichtig war, ist die Klonresistenz: das Erstellen verschiedener Antragsvarianten zur gleichen Grundidee führt insgesamt zu keinem Vorteil oder Nachteil. Genau diese Eigenschaft bildet die Voraussetzung für den Verzicht auf Mehrheitsklüngelei” und taktisches Wählen. Ein Stimmberechtigter bringt bei LiquidFeedback alle Anträge, denen er zustimmen möchte, in eine Präferenzreihenfolge. Dabei kann er auch mehrere Anträge gleichbehandeln, indem er zum Beispiel zwei Favoriten oder mehrere Ersatzwünsche gleichen Ranges benennt. Auch abgelehnte Vorschläge können auf Wunsch in eine Präferenzreihenfolge gebracht werden, damit keine Motivation zur Zustimmung oder Enthaltung für das „kleinere Übel” entsteht. Im Rahmen der Auszählung wird zunächst die Gesamtzahl der Zustimmungen und Ablehnungen ermittelt und die nicht mehrheitsfähigen Anträge werden gestrichen. Die verbleibenden Anträge werden mit Hilfe der Schulze-Methode in eine Rangreihenfolge gebracht. Der Antrag mit dem höchsten Rang gilt als angenommen. Durch die Wahl einer klonresistenten Präferenzwahl brechen wir mit dem politischen Einigungszwang: niemand soll gezwungen sein, zur Schaffung von Mehrheiten schon im Vorfeld faule Kompromisse einzugehen.

Nach der Abstimmung werden alle Abstimmdaten offengelegt (namentliche Abstimmung). Dies gilt auch für die Informationen darüber, wer mit wessen Vollmacht gestimmt hat. Auf diese Weise kann jeder Teilnehmer selbst die Korrektheit der Ergebnisse überprüfen. Dies ist die einzige Möglichkeit, das System nachhaltig gegen Manipulationen zu schützen. Aus Datenschutzgründen können Pseudonyme zugelassen werden, wodurch die Abstimmung aber nicht zur geheimen Wahl werden kann. Eine geheime Wahl mittels Computer stellt ohnehin eine Illusion dar. Unter Verweis auf das Gibbard-Satterthwaite-Theorem bzw. das General Impossibility Theorem von Arrow plädieren wir jedoch während des Abstimmprozesses für eine organisatorisch sichergestellte Geheimhaltung von Zwischenergebnissen zur Verhinderung von Wahlmanipulationen (z. B. durch Bots). Obwohl die Schulze-Methode aufgrund ihrer Eigenschaften den Abstimmenden kein taktisches Wählen aufdrängt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Ergebnis verfälscht werden könnte, wenn die Zwischenergebnisse weitläufig bekannt sind.

Entwickelt haben wir LiquidFeedback mit Blick auf die Piratenpartei, deren Landesverband Berlin es seit Januar 2010 zur Ausarbeitung politischer Positionen nutzt. LiquidFeedback steht der Öffentlichkeit als Open Source Software unter MIT-Lizenz kostenfrei zur Verfügung und kann daher auch von anderen Parteien, Gebietskörperschaften, NGOs, Vereinen und Stiftungen genutzt werden.

Ausblick

Es steht zu vermuten, dass auf Liquid Democracy beruhende Entscheidungen zunächst als Handlungsempfehlungen Eingang in bestehende demokratische Entscheidungsstrukturen finden werden. Selbst mit der unverbindlichen Einbettung in das übergeordnete System (etwa eine Partei) wäre schon viel gewonnen, weil erkennbar wird, ob ein Repräsentant sich dem Willen der Basis verpflichtet fühlt. Andererseits könnte dies aber auch Repräsentanten dabei helfen, die „Einsamkeit” der Führungsposition wenigstens teilweise zu überwinden. Dafür ist es aber erforderlich, dass die Entscheidungen selbst keinesfalls schwammig sind. Die Regeln dürfen eben nicht „liquid” sein, vielmehr muss eine Entscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt zweifelsfrei feststehen und belastbar sein.

Möchte man mit einer Partei, deren Entscheidungen mittels Liquid Democracy in permanenter Interaktion zwischen Basis und Repräsentanten fallen, zusammenarbeiten oder gar eine Koalition eingehen? Zunächst einmal kann eine Entscheidung natürlich für eine vereinbarte Zeit gelten. Da unterscheidet sich Liquid Democracy nicht von anderen Entscheidungswegen, es kommt auf die vereinbarten Regeln an. Die sozialliberale Koalition fand übrigens 1982 ganz ohne Liquid Democracy ihr vorzeitiges Ende. Die grundsätzliche Frage wäre aber, ob Koalitionen nicht eigentlich der Suche nach der besseren Lösung im Weg stehen. Die Ausrichtung an Sachfragen könnte uns so bemerkenswerte Vorgänge ersparen, wie die Ablehnung dessen, was man eigentlich fordert aber leider von den „Falschen” beantragt wurde. Vielleicht werden sich die Parlamente der Zukunft durch wechselnde Mehrheiten und mehr Sachorientierung auszeichnen. „Wir wollen an die Regierung – wir wollen ja etwas bewegen.” kann man gelegentlich auch in der Piratenpartei hören. Wenn es um die Sache geht, könnte man mit wechselnden Mehrheiten - je nach Situation - vielleicht sogar mehr erreichen.

Eine große Herausforderung wird auch darin bestehen, die Bedeutung einer Entscheidung für einzelne Gruppen in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Eine Entscheidung, die Vielen einen kleinen Vorteil bringt, einigen Wenigen aber einen großen Nachteil, bedarf der Abwägung. Berücksichtigt werden müssen unter Umständen auch Auswirkungen auf Dritte, die an einer Abstimmung gar nicht beteiligt sind. Es wird nicht mehr darum gehen, der Öffentlichkeit etwas „zu verkaufen”, sondern in einem mühsamen Prozess die für eine sinnvolle Entscheidung erforderlichen Informationen zu vermitteln - und es wird nicht genügen, nur die eigenen Interessen im Blick zu haben. Es wird dabei auch um die Frage gehen, was uns der soziale Friede wert ist, und zwar lokal, national und global. Das Durchsetzen von Partikularinteressen ohne gerechte Abwägung ist Kennzeichen einer zu überwindenden Politik alten Stils. Wir verbinden mit der interaktiven Demokratie die Hoffnung, dass sich mit der Beteiligung vieler interessierter Menschen auch eine neue Sicht auf die Zusammenhänge der Welt gegen Unvernunft und übermäßigen Eigennutz durchsetzt.

... every man is a sharer... and feels that he is a participator in the government of affairs, not merely at an election one day in the year, but every day. Thomas Jefferson