Dieser Artikel erschien zuerst auf der Online-Präsenz von
„vorwärts : die Zeitung der deutschen Sozialdemokratie“
Liquid Democracy kann die repräsentative Demokratie nicht ersetzen. Trotzdem könnte die Gesellschaft von Liquid Democracy profitieren – vor allem die Parteien sollten die Chance nutzen.
Der entscheidende Vorteil der repräsentativen Demokratie ist die Verwirklichung von Arbeitsteilung auf dem Gebiet der Politik – ein Rückgriff auf ein Erfolgskonzept der Menschheit. Diese Arbeitsteilung führt allerdings dazu, dass die Wähler nur alle vier bzw. fünf Jahre verbindlichen Einfluss ausüben können und sich die Wahlentscheidung jeweils auf ein ganzes Bündel an politischer Programmatik bezieht – die Wähler können bei Bundestags- oder Landtagswahlen nicht zwischen verschiedenen politischen Fragen differenzieren.
Es überrascht daher wenig, dass viele Menschen sich mehr direkte Demokratie wünschen. Das Internet scheint dies nun in greifbare Nähe zu rücken. Aber kann und will sich wirklich jeder mit jeder politisch relevanten Frage auseinandersetzen?
Hier bietet die Idee der Liquid Democracy – auch „Transitive Proxy Voting“ genannt – eine vielversprechende Lösung: Eine dynamische Arbeitsteilung, die vom Individuum ausgeht. Liquid Democracy vereinigt Elemente der repräsentativen und der direkten Demokratie. Die Stimmberechtigung kann selbst wahrgenommen werden; oder sie wird mittels Stimmvollmacht, Delegation genannt, an einen Repräsentanten übertragen. Anders als bei der Wahl von Amtsinhabern und Abgeordneten kann die Delegation aber geändert werden und eine direkte Teilnahme ist jederzeit möglich. Jeder kann entscheiden, ob er oder sie sich so verhält wie in einer repräsentativen Demokratie oder in einer direkten Demokratie. Diese Entscheidung kann außerdem für jedes einzelne Thema getroffen werden. So ergibt sich ein fließender Übergang zwischen repräsentativer und direkter Demokratie.
Im Fall der Software LiquidFeedback wird Liquid Democracy nicht nur für die Abstimmung, sondern auch für die strukturierte Diskussion, die der Abstimmung vorausgeht, genutzt. Dies ermöglicht eine proportionale Repräsentation aller Standpunkte und eine kollektive Moderation durch alle Teilnehmer, so dass kein Moderator mit Sonderrechten benötigt wird. LiquidFeedback ermöglicht einen vertrauenswürdigen Entscheidungsprozess mit glaubhaften und stets nachvollziehbaren Ergebnissen.
Mit namentlichen Abstimmungen können Manipulationen oder Fehler bei Online-Abstimmungen sicher entdeckt und korrigiert werden, ohne dass hierbei einer zentralen Stelle (z. B. der Herstellerfirma einer Software und dem jeweiligen Betreiber) vertraut werden muss. Da Liquid Democracy in größerem Rahmen nur mit Computerunterstützung durchführbar ist, sind geheime Abstimmungen nicht möglich.
Genau aus diesem Grund allerdings kommt Liquid Democracy auf staatlicher Ebene nicht in Betracht. Es wäre vollkommen unverantwortlich auf die freie, gleiche und geheime Wahl als Sicherungsmechanismus der Demokratie zu verzichten. Liquid Democracy als Ersatz der repräsentativen Demokratie muss sehr kritisch hinterfragt werden. Sehr wohl möglich ist jedoch der Einsatz als zusätzlicher Kanal zwischen Wählern und Abgeordneten oder Bürgern und Institutionen.
Die Chance zur Veränderung der Gesellschaft liegt bei Liquid Democracy im innerparteilichen Einsatz. Wenn sich politisch interessierte Bürger in Parteien freiwillig organisieren, können sie sich selbstbestimmt für Liquid Democracy zur Festlegung der programmatischen Ausrichtung ihrer Partei entscheiden. Innerparteilich werden Liquid-Democracy-Parteien auf geheime Abstimmungen verzichten oder diese bei Bedarf außerhalb ihres Liquid-Democracy-Systems durchführen müssen.
Liquid-Democracy-Parteien könnten eine große Attraktivität für politisch Interessierte entfalten und im Idealfall große Teile der Bevölkerung an sich binden. Diese Parteien werden im Wettbewerb mit denjenigen Parteien stehen, die sich in anderer Weise organisieren. Dann können sich die Bürger zwischen den Alternativen in geheimer (!) Wahl entscheiden.
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Online-Präsenz von
„vorwärts : die Zeitung der deutschen Sozialdemokratie“